Die Posttraumatische Belastungsstörung im Unfall- und Haftpflichtrecht
Rund ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung wird einmal im Verlauf ihres Lebens mit einem traumatischen Ereignis, wie einem schweren Unfall oder zwischenmenschlicher Gewalt konfrontiert [1]. Die Lebenszeitprävalenz für die Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) nach einer traumatischen Erfahrung liegt in der Schweiz [2] und Europa [3] bei rund zwei Prozent, wobei diese starken Schwankungen in Abhängigkeit der Art des Ereignisses unterworfen ist. Unfall- und Haftpflichtversicherungen schützen Geschädigte und Verursacher vor gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen, welche durch ein spezifisches äusseres Ereignis (Indexereignis) verursacht werden. Die Leistungspflicht des Versicherers setzt grundsätzlich voraus, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem vorliegenden Gesundheitsschaden und dem Indexereignis besteht.
Bei der Beurteilung des natürlichen Kausalzusammenhangs durch psychiatrische Sachverständige nimmt die PTBS insofern eine besondere Rolle ein, als die Konfrontation mit einem traumatischen Ereignis eine grundsätzliche Voraussetzung für deren Diagnose darstellt. Dies unterscheidet die PTBS von der ansonsten rein deskriptiv gehaltenen diagnostischen Klassifikation anderer psychiatrischer Störungen. Aus dieser diagnoseinhärenten Kausalitätsvoraussetzung darf allerdings nicht zwangsläufig gefolgert werden, dass das Indexereignis die alleinige und unmittelbare Ursache der vorliegenden gesundheitlichen Störung sein muss. Typischerweise tragen eine Reihe anderer Faktoren dazu bei, ob Betroffene nach einer traumatischen Erfahrung eine PTBS entwickeln oder nicht. Somit liegt es in der Verantwortung des psychiatrischen Sachverständigen, differenziert und nachvollziehbar zu erläutern, welchen Anteil das Indexereignis am gesamten Entwicklungsprozess des Gesundheitsschadens hat.
Multifaktorieller Ansatz zur Kausalitätsbeurteilung
Um der Komplexität und Vielschichtigkeit der Kausalitätsbeurteilung bei der PTBS gerecht zu werden, wird hier ein multifaktorielles Vorgehen aufgezeigt [4], welches zur besseren praktischen Anwendbarkeit adaptiert und erweitert wurde. Die Beurteilung von insgesamt 15 Kausalitätsfaktoren erfolgt innerhalb von sieben Kausalitätsgruppen und zwei Kausalitätsebenen (siehe Tabelle). Eine solchermassen systematisch durchgeführte Abhandlung erlaubt einerseits eine kritische Bewertung der präsentierten Beschwerden (Kausalitätsebene 1), anderseits die Identifizierung und Gewichtung von Faktoren, welche nebst dem Indexereignis zu Entwicklung und Verlauf der posttraumatischen Symptome beigetragen haben (Kausalitätsebene 2).
Kausalitätsskalen
Der Beweisgrad eines Kausalzusammenhangs zwischen dem aktuellen psychiatrischen Zustandsbild und einem Indexereignis („Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit“, d.h. Grad der Sicherheit bzw. Unsicherheit des Kausalzusammenhangs) wird auf einer ordinalen Gradierungsskala (sicher; überwiegend wahrscheinlich; möglich; unwahrscheinlich) eingeschätzt.
Durch die Gewichtung und Integration sämtlicher Kausalitätsfaktoren kann darüber hinaus das Ausmass des Kausalzusammenhangs zwischen Indexereignis und Gesundheitsschaden („Kausalitätsanteil“, d.h. in welchem Ausmass eine Kausalität vorliegt) auf einer ordinalen Gradierungsskala (alleinige Kausalität; überwiegende Kausalität; teilweise Kausalität; geringfügige Kausalität; keine Kausalität) eingeschätzt werden. Diese zweite Skala zum Ausmass bzw. zur Stärke eines (natürlichen) Kausalzusammenhangs kann dem Rechtsanwender die medizinischen Grundlagen für die Beurteilung der Adäquanz eines Kausalzusammenhangs liefern.In einer Kriteriengeleiteten Befunderhebung werden direkt die diagnostischen Kriterien des DSM-5 beurteilt. Dies kann in einem strukturierten oder offenen Interviewformat erfolgen. Strukturierte Interviews sind standardisiert und folgen einem festen Schema. Offene Interviews sind flexibler und weniger direktiv. Strukturierte diagnostische Interviews, wie das SCID-5 (Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-5) [7] eignen sich für eine gutachterliche Untersuchung infolge des hohen Zeitaufwandes nur bedingt. Offene Interviews ermöglichen es dem Gutachter zudem, besser auf die Beziehungsgestaltung und Verhaltensbeobachtungen zu achten.
Psychiatrischer Endzustand
Im Rahmen einer Kausalitätsbeurteilung wird häufig auch eine Aussage zum Endzustand der Symptomatik gewünscht. Für psychiatrische Störungen, und insbesondere die PTBS, ist eine solche Aussage häufig durch ein breites Unsicherheitsintervall gekennzeichnet. Zwar ist bei einem seit Jahren bestehenden chronischen Verlauf die Wahrscheinlichkeit für eine signifikante Verbesserung üblicherweise klein, sofern störungsspezifische Behandlungen erfolglos blieben. Ein psychiatrischer Endzustand kann jedoch nicht postuliert werden, solange eine evidenzbasierte traumafokussierte Therapie [5] nicht zumindest versucht wurde. Anderseits kann auch bei Remission eine erneute Zunahme posttraumatischer Symptome, z.B. als Folge einer Retraumatisierung, nicht ausgeschlossen werden. So kam es im Laufe eines siebenjährigen Beobachtungszeitraums bei rund einem Drittel der remittierten PTBS-Patienten zu einem Rückfall [6].
Verbesserung der Nachvollziehbarkeit einer gutachterlichen Kausalitätsbeurteilung
Die Anwendung des hier dargestellten multifaktoriellen Vorgehens bei der Kausalitätsbeurteilung in Unfall- und Haftpflichtgutachten ermöglicht eine systematische Darlegung der komplexen Zusammenhänge, welche üblicherweise bei der Entstehung und Aufrechterhaltung einer posttraumatischen Symptomatik nach einem Indexereignis vorliegen. Eine solche ausführliche und differenzierte Herleitung steigert die Nachvollziehbarkeit einer gutachterlichen Beurteilung erheblich. Dies ist insbesondere auch wünschenswert angesichts der öffentlichen Kritik, mit der sich versicherungsmedizinische Gutachter gerade auch in der Schweiz in zunehmendem Masse konfrontiert sehen [7].
Literatur
[1] M. Perrin u. a., «Determinants of the development of post-traumatic stress disorder, in the general population», Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, Bd. 49, Nr. 3, S. 447–457, 2014.
[2] S. Krammer, Y. Linder, und A. Maercker, «Classic and complex PTSD in Switzerland: prevalence and theoretical discussion», in Comprehensive Guide to Post-Traumatic Stress Disorders, C. L. Martin, V. R. Preedy, und V. B. Patel, Hrsg., Springer, 2015.
[3] L. Atwoli, D. J. Stein, K. C. Koenen, und K. A. McLaughlin, «Epidemiology of posttraumatic stress disorder: Prevalence, correlates and consequences», Current Opinion in Psychiatry, Bd. 28, Nr. 4, S. 307–311, 2015, doi: 10.1097/YCO.0000000000000167.
[4] G. Young, «Causality: Concepts, Issues, and Recommendations», in Causality of psychological injury: Presenting evidence in court, G. Young, A. W. Kane, und K. Nicholson, Hrsg., Springer US, 2007, S. 49–86.
[5] J. I. Bisson, N. P. Roberts, M. Andrew, R. Cooper, und C. Lewis, «Psychological therapies for chronic post-traumatic stress disorder (PTSD) in adults», Cochrane Database Syst Rev, Bd. 12, 2013.
[6] E. B. Ansell u. a., «The association of personality disorders with the prospective 7-year course of anxiety disorders», Psychol Med, Bd. 41, Nr. 5, S. 1019–1028, Mai 2011, doi: 10.1017/S0033291710001777.
[7] D. Benz, «IV-Rente – Die grosse Lotterie», Der Beobachter, S. 13–20, März 2021.
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