Kriteriengeleitete Befunderhebung und Diagnostik
Ein zentrales Problem in der Versicherungspsychiatrie besteht in der geringen Übereinstimmung (Reliabilität) bei der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit [1]. Um eine konsistente und zuverlässige Beurteilung zu gewährleisten, ist eine präzise Befunderhebung und Diagnostik essenziell. Die Qualitätsleitlinien für versicherungspsychiatrische Gutachten [2] betonen daher die Bedeutung einer kriteriengeleiteten Diagnostik, die sich an den Klassifikationssystemen des ICD (Internationale Klassifikation der Krankheiten) oder des DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) orientiert. Der Einsatz dieser Klassifikationssysteme zielt darauf ab, den subjektiven Ermessensspielraum der Gutachter zu minimieren und somit eine höhere Übereinstimmung in der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit zu erreichen.
Limitationen einer Befunderhebung gemäss AMDP
In der psychopathologischen Befunderhebung im deutschsprachigen Raum wird häufig das AMDP-System (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie) [3] genutzt. Allerdings weist dieses System im Kontext psychiatrischer Gutachten mehrere Einschränkungen auf:
- Es fehlt eine klare Trennung zwischen subjektiven Beschwerdeangaben, objektiven Verhaltensbeobachtungen und der eigentlichen Bewertung des Befundes.
- Zusätzliche Informationsquellen wie Berichte von Drittpersonen oder psychometrische Testergebnisse werden nicht systematisch einbezogen.
- Der Beurteilungszeitraum, d.h. ob dieser sich ausschliesslich auf den Zeitpunkt der Untersuchung oder auf den Alltag des Versicherten bezieht, wird häufig nicht definiert.
- Zahlreiche Symptome, die für eine spezifische Diagnose relevant sein können, sind im AMDP-System nicht enthalten.
- Das System sieht keine explizite Begründung für die Beurteilung der Befunde vor.
- Die Umsetzung des psychopathologischen Befundes in eine spezifische psychiatrische Diagnose ist nicht direkt möglich.
Diese Einschränkungen können umgangen werden, wenn der psychopathologische Befund direkt gemäss den Symptomkriterien des ICD-10 [4], ICD-11 [5] oder DSM-5 [6] erhoben wird. Für gutachterliche Zwecke ist besonders das DSM-5 zu empfehlen, da es detailliertere und spezifischere Symptomkriterien bietet im Vergleich zur ICD-10/11, welche eine breite, interkulturelle Anwendbarkeit anstrebt und daher in manchen Bereichen weniger spezifisch ist.
Kriteriengeleitete Befunderhebung gemäss DSM-5
Strukturiertes oder offenes Interview
In einer Kriteriengeleiteten Befunderhebung werden direkt die diagnostischen Kriterien des DSM-5 beurteilt. Dies kann in einem strukturierten oder offenen Interviewformat erfolgen. Strukturierte Interviews sind standardisiert und folgen einem festen Schema. Offene Interviews sind flexibler und weniger direktiv. Strukturierte diagnostische Interviews, wie das SCID-5 (Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-5) [7] eignen sich für eine gutachterliche Untersuchung infolge des hohen Zeitaufwandes nur bedingt. Offene Interviews ermöglichen es dem Gutachter zudem, besser auf die Beziehungsgestaltung und Verhaltensbeobachtungen zu achten.
Informationsquellen
Für die Beurteilung eines spezifischen Symptomkriteriums werden sämtliche verfügbaren Informationsquellen berücksichtigt (siehe Abbildung). Nebst den subjektiven Schilderungen der Betroffenen, also den Eigenangaben zu Beschwerden, sind dies Fremdangaben von nahestehenden Personen, wie beispielsweise dem Lebenspartner. Einen zentralen Stellenwert haben die Verhaltensbeobachtungen, die während des Interviews gemacht werden. Darüber hinaus tragen Ergebnisse aus psychometrischen Untersuchungen, wie etwa standardisierte Fragebögen, sowie objektiven Tests, wie Laboruntersuchungen oder standardisierten kognitiven Tests, zu einer fundierten Einschätzung bei.
Befunddokumentation
Eine strukturierte Präsentation aller relevanten Informationen (siehe Beispiel in Tabelle), die entweder das Vorliegen eines Symptomkriteriums stützen oder in Frage stellen, verbessert bereits implizit die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der gutachterlichen Beurteilung. Darüber hinaus wird die Entscheidungsfindung weiter gefestigt, indem explizit erläutert wird, aus welchen Gründen 1) eine Beschwerde als klinisch relevant, das heisst pathologisch, eingestuft wird, 2) welcher spezifischen Diagnose das Symptom zugeordnet wird, und 3) welche differenzialdiagnostischen Erwägungen in Betracht gezogen wurden. Diese klare Begründung trägt wesentlich zur Qualitätssicherung im diagnostischen Prozess bei, indem sie eine fundierte Grundlage für die Entscheidungsfindung schafft und es ermöglicht, die diagnostischen Schlussfolgerungen nachvollziehbar zu kommunizieren. Um die Verbindung zum traditionellen AMDP-System zu wahren, können die Befunde innerhalb der Kategorien des AMDP-Systems präsentiert werden.
Schlafstörungen |
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Eigenangaben: | Ich habe fast jede Nacht Mühe mit dem Einschlafen. Ich liege im Bett und studiere an meinen Sorgen herum. In der Nacht wache ich mehrmals auf, komme dann ins Grübeln und kann nicht mehr einschlafen. |
Fremdangaben (Ehemann): | Sie ist nachts häufig wach. Teilweise steht sie auf und verlässt das Schlafzimmer. |
Psychometrie: | ‘Ich schlafe nicht mehr so gut wie früher’ (1 von 4 Punkten) gemäss Beck-Depressions-Inventar (BDI) |
Verhaltensbeobachtung: | Die Explorandin hat dunkle Augenringe und wirkt müde. |
Beurteilung: | Die geschilderten Schlafstörungen sind Ausdruck einer Major Depression (Kriterium A4), da diese durch übermässiges Grübeln verursacht werden, wie es für depressiv bedingte Schlafstörungen typisch ist. Bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung sind Schlafstörungen (Kriterium E6) hingegen durch eine übermässige Anspannung, Ängste und/oder Alpträume verursacht. |
Literatur
[1] J. Barth u. a., «Inter-rater agreement in evaluation of disability: Systematic review of reproducibility studies», BMJ (Online), Bd. 356, 2017, doi: 10.1136/bmj.j14.
[2] E. Colomb u. a., «Qualitätsleitlinien für psychiatrische Gutachten in der Eidgenössischen Invalidenversicherung», Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und PsycAhotherapie SGPP, Bern, 2012.
[3] Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie, Das AMDP-System: Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde, 10., Korrigierte Auflage. Göttingen: Hogrefe, 2018.
[4] Weltgesundheitsorganisation, Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V(F). Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis. Bern: Hans Huber, 2006.
[5] «BfArM – ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung». Zugegriffen: 23. Oktober 2023. [Online]. Verfügbar unter: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html;jsessionid=A858CB7CC909878381FCF8905067C417.intranet672
[6] American Psychiatric Association, Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5. Göttingen: Hogrefe, 2013.
[7] K. Beesdo-Baum, M. Zaudig, und H.-U. Wittchen, SCID-5-CV Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-5 Störungen – Klinische Version. Göttingen: Hogrefe, 2019.
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